Jona, der kleine Hirte

 

Mein Name ist Jona und ich bin sieben Jahre alt. Meine Familie ist arm,  deshalb arbeiten wir mit einigen anderen Männern und Frauen als Schafhirten. Meine Eltern, ich und meine kleine Schwester Miriam leben in einem Zelt, so wie alle Hirten, weil wir die Herde nie aus den Augen lassen dürfen. Wenn die Tiere auf eine andere Wiese getrieben werden, nehmen wir die Zelte mit. Unser Herr, dem die vielen Schafe gehören, hat uns diese Aufgabe anvertraut. Dafür ernährt und kleidet er uns. Auch die Zelte hat er errichtet, damit wir in kalten Nächten nicht draußen schlafen müssen. Er ist ein guter Herr, das kann man wirklich nicht anders sagen. Wir hätten es viel schlechter treffen können, meinen die Erwachsenen. Das mag so sein, trotzdem wünsche ich mir oft, dass ich nicht mein Leben lang  Schafe hüten muss, aber so wie es aussieht, wird dieser Wunsch wohl unerfüllt bleiben. Kein Hirte, den ich kenne, hat jemals lesen und schreiben gelernt, so wie unser Herr. Aber das ist wichtig, wenn man im Leben etwas erreichen möchte. Ich gebe die Hoffnung nicht auf und bete täglich dafür, dass Gott irgendwann auch für mich ein kleines Wunder geschehen lassen möge. Heute ist eine Nacht, in der ich einfach keinen Schlaf finden kann. Vater ist draußen bei der Herde, um Wache zu halten.  Mutter, Miriam und ich sollen uns währenddessen in unserem Zelt ausruhen und schlafen. Aber dann schrecke ich auf, denn plötzlich erleuchtet ein unglaublich helles Licht die dunkle Nacht, und ich höre Vater nach uns rufen. Seine Stimme klingt erschrocken, fast ein wenig fremd. Auch Mutter hat es gehört, sie erhebt sich von ihrem Lager und nimmt Miriam auf den Arm. Gemeinsam treten wir vor das Zelt. Vater kniet vor einem Wesen, das wie eine wunderschöne Frau aussieht. Aber es kann keine gewöhnliche Frau sein, denn sie hat auf dem Rücken große weiße Schwingen. Ich kann meine Augen von dieser überirdisch schönen Erscheinung gar nicht abwenden. Da meine Mutter sich nun ebenfalls auf die Knie fallen lässt, tue ich es ihr gleich. Auch die anderen Hirten und ihre Frauen sind erwacht und aus den Zelten gekommen. Alle sind erschrocken und schauen die Erscheinung ängstlich an. Dann höre ich, wie das Wesen seine glockenhelle Stimme erhebt und zu uns spricht: „Fürchtet Euch nicht, denn Ihr seid gesegnet. Ich bin der Engel des Herrn, der mich zu Euch gesandt hat, um Euch die frohe Botschaft der Geburt seines Sohnen zu verkünden. Der Messias ist gekommen, um die Menschen von allen Sünden zu erlösen. In einem Stall, unweit von hier, ist er zu finden. Macht Euch auf den Weg um ihn anzuschauen. Der Stern wird Euch den Weg weisen.”

Dann verblasst der wunderschöne Engel und ist binnen kürzester Zeit verschwunden. Aber ein Stern strahlt am Himmel, so hell wie ihn zuvor noch niemand von uns sah. Alle sind erschüttert und verunsichert von dem was wir gerade erlebt haben. Einige wollen am liebsten sofort aufbrechen, Andere sind besonnener und besprechen miteinander was sie tun werden.

„Wir können die Herde nicht unbeaufsichtigt lassen”, gibt ein Hirte zu bedenken.

„Aber wir müssen uns aufmachen, um den neugeborenen Heiland zu begrüßen”, wendet ein Anderer ein.

Schließlich einigen sie sich, dass zwei alte Hirten auf die Herde achten sollen, während alle Anderen sich auf den Weg machen. Auch meine Familie geht mit. Unterwegs sprechen alle von dem Wunder, dessen Zeuge wir soeben geworden sind. Gott hat uns seinen eigenen Sohn geschickt und wir Hirten, die Ärmsten der Armen sind die Ersten, die davon erfahren, allein das ist ein Wunder.

 

Lange laufen wir, und langsam weicht die Dämmerung dem neuen Tag.  Der Stern strahlt so hell, dass wir ihn immer noch sehen gut können. Komischerweise werde ich gar nicht müde, obwohl ich kaum geschlafen habe. Dann sehen wir, dass der Stern über einem verfallenen Stall stehen- bleibt. Sogar die Unterkunft für unsere Schafe sieht besser aus. Es ist kaum mehr als eine verfallene Hütte, zu der wir von dem Stern geführt wurden. Dort soll der Heiland geboren worden sein? Plötzlich bekomme ich Zweifel, aber ich marschiere trotzdem weiter tapfer mit. Im Näherkommen sehe ich den hellen Schein, der den Stall umgibt und mir ist, als höre ich  ganz leise einen lieblichen Gesang. Dann stehen wir andächtig vor der Krippe, in der das Neugeborene liegt. Eine  Frau und ein Mann stehen daneben und schauen es stolz und liebevoll an. Weiter hinten sieht man einen Esel und einen Ochsen. Beide Tiere sind ganz still. Als ich das Kind betrachte, erinnere ich mich daran, dass ich vor einiger Zeit einen wunderschönen, in allen Farben des Regenbogens schimmernden, Stein gefunden habe. Den trage ich immer bei mir, als Glücksbringer. Es ist mein kostbarster Besitz, und ich habe mir geschworen, mich nie davon zu trennen. Aber nun fühle ich, dass ich ihn diesem kleinen Jungen schenken möchte. Ich spüre, er wird ihn nötiger haben als ich. Ich nehme den Stein aus meiner Tasche und lege ihn behutsam in die Krippe.

„Pass gut darauf auf”, flüstere ich.

 

In dem Moment schlägt das Kind die Augen auf und sieht mich an. Mir ist, als würde es mich zum Dank anlächeln. So glücklich habe ich mich noch nie gefühlt. Ich weiß ganz genau, dass ich das Richtige getan habe. Auch mein Leben wird sich wenden, sobald es an der Zeit ist – ganz bestimmt. Kurz danach verabschieden wir uns von den jungen Eltern, und begleitet von ihren Segenswünschen machen wir uns auf den Heimweg. Dieses Mal reden wir nicht viel, sondern legen den größten Teil des Weges schweigend zurück. Alle sind ergriffen von dem Wunder, das wir soeben miterleben durften.

 

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