Eine neue Chance

 

Jo hieß eigentlich Johannes, aber dieser lange, noch dazu biblische Name, hatte ihm noch nie so recht gefallen, deshalb nannte er sich Jo. In der Obdachlosenszene benutzten viele einen anderen als ihren richtigen Namen. Seit Jahren war er nun schon „auf Platte“, wie es in Insiderkreisen hieß, und Jo wusste, so konnte es nicht mehr lange weitergehen. Er musste sich bald entscheiden ob er sich endgültig aufgeben wollte oder doch noch einmal den Versuch wagen sollte, seinem Leben einen neuen Inhalt zu geben. Es gab Tage, da fühlte er sich durchaus in der Lage dazu, aber letztlich fehlte ihm bedauerlicherweise die Kraft, diesen guten Vorsatz in die Tat umzusetzen. Unter den anderen Obdachlosen galt er als Sonderling, aber das war ihm nur recht so.

 

Am schlimmsten waren die Sonntage. Wenn er dann, immer auf der Suche nach etwas Essbarem oder anderen Dingen die er noch verwerten konnte, durch die Vororte seiner Heimatstadt streifte, empfand er seine Einsamkeit ganz besonders schmerzlich. Im Sommer zogen ihm oft die wunderbarsten Düfte in die Nase, denn viele Familienväter standen in ihren Gärten am Grill, während ihre Ehefrauen mit prall gefüllten Salatschüsseln neben ihnen standen und die Tische auf der Terrasse deckten. Lachende Kinder liefen umher und stritten sich darum, wer das erste Würstchen essen durfte. Nur ein Rausch schien diese Idylle erträglich zu machen. Familie, ja die hatte er auch mal gehabt, aber dann hatte ein tödlicher Unfall das Leben seiner Frau und seines kleinen Sohnes beendet – einfach so, weil ein Autofahrer nicht aufgepasst hatte. Damit war schlagartig auch seine eigene Existenz ausgelöscht worden. Er fühlte sich total verloren und nichts ergab mehr einen Sinn für ihn. Jo begann zu trinken, ließ sich immer mehr gehen und hatte Suizidgedanken. So hatte es nicht lange gedauert, bis er auf der Straße gelandet war. Dieses unstete Leben führte er nun schon seit fünf Jahren, aber sollte es wirklich für den Rest seines Lebens so bleiben?

 

Wieder einmal war Sonntag. Jo streifte unschlüssig umher, bis er schließlich in einer Grünanlage eine Bank fand, auf der er sich niederließ. Er fühlte sich müde, unendlich müde und schlief ein. So fand ihn einige Zeit später der große Hund. Ein Streuner, genau wie Jo, war er. Abgemagert, heimatlos und auf der Suche nach Anschluss. Eine Weile saß er neben dem schlafenden Mann auf der Bank, bevor er handelte. Jo spürte im Schlaf, wie eine raue Zunge ihm vorsichtig über das Gesicht leckte. Immer wieder ohne Unterlass, bis er endlich erwachte. Zunächst glaubte er zu träumen, aber als er die Augen aufschlug, blickte er in zwei große dunkle Hundeaugen die ihn fixierten.

„Wer bist Du und woher kommst Du?“, fragte Jo verwundert. 

Der Hund starrte ihn nur an. Er war ein bildschönes Tier, eine Mischung aus Schäferhund und Collie, vermutete Joe. Sicher war er irgendwem entlaufen, aber er trug kein Halsband. Als Jo sich mühsam aufgerappelt hatte, folgte ihm der fremde Hund wie ein stummer Schatten.

„Geh, ich kann nichts mit Dir anfangen, und zu fressen habe ich auch nichts für Dich“, versuchte Jo seinen Begleiter zu verscheuchen, aber der ließ sich nicht abhängen. Er war offenbar fest entschlossen, sein Leben von nun an mit Jo zu teilen.

„Also gut, dann komm“, gab der schließlich nach, und gehorsam trottete der Hund neben ihm her. Seitdem waren sie Freunde. Jack, so hatte Jo den Hund getauft. Jack gehorchte seinem neuen Herrchen erstaunlicherweise aufs Wort. Irgendwann, in einem anderen Leben, war er offenbar sehr gut erzogen worden. Jo gewöhnte sich sehr schnell an die Gesellschaft von Jack, ja er genoss es sogar ihn bei sich zu haben. Er teilte mit Jack seine kargen Mahlzeiten, und ab und zu setzte er sich mit ihm an die Straße um zu betteln, damit er für seinen Kumpel ein paar Dosen Hundefutter kaufen konnte.

 

Als er mit Jack, vor sich einen Hut und das Pappschild, auf dem er um eine kleine Spende für sich und seinen Hund bat, in der Nähe der St. Michaelis-Kirche saß, wurde der dortige Pfarrer auf die beiden aufmerksam. Er sprach Jo an und lud ihn sehr herzlich ein, mit ihm im Pfarrhaus nebenan etwas zu essen. Jack dürfe selbstverständlich mitkommen, versicherte er. Zunächst sträubte Jo sich dagegen, weil er sich schämte. Aber der freundliche Pfarrer ließ seine Einwände gar nicht erst gelten, sondern sagte nur kurz: „Also, ich erwarte Sie dann gegen 13.00 Uhr – bis später.“

Viele Leute hasteten an ihnen vorbei, ohne auf sie zu achten. Einige blieben stehen, kramten in ihren Taschen nach Kleingeld und warfen ein paar Münzen in seinen Hut. Jo hasste es zu betteln, aber er musste schließlich nicht nur für sich selbst sorgen, sondern hatte auch für Jack die Verantwortung übernommen; und nur deshalb überwand er sich dazu.

Weil Jack bei dieser Einladung zustimmend mit dem Schwanz gewedelt hatte, er war sonst Fremden gegenüber äußerst reserviert, ging Jo pünktlich mit ihm ins Pfarrhaus. Er hatte lange keine warme Mahlzeit mehr gehabt und die Aussicht darauf erschien ihm plötzlich sehr verlockend. Schließlich stand er mit Jack vor der Tür und klingelte zaghaft. Eine gepflegte ältere Dame, offenbar die Haushälterin des Pfarrers, öffnete ihnen die Tür.

„Kommen Sie nur herein, der Herr Pfarrer hat sie bereits angekündigt – und Dich auch“, fügte sie mit einem Seitenblick auf Jack hinzu.

„Ah, da sind ja unsere Gäste, ich freue mich, dass Sie gekommen sind“, hörte Jo den Pfarrer sagen, als er aus seinem Arbeitszimmer trat. Wieder wurde er von Jack schwanzwedelnd begrüßt. Wenn Jack jemanden mochte, dann war das ein gutes Zeichen, das wusste Jo. Sein Hund verfügte über eine hervorragende Menschenkenntnis, das hatte er schon mehrfach bewiesen. So folgten er und Jack ihrem netten Gastgeber in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Dort unterhielt er sich einige Minuten mit dem jungen Pfarrer, bevor die Haushälterin verkündete: „Das Essen ist fertig“, und sie zu Tisch bat.

„Für Dich werden wir bestimmt auch etwas finden“, mit diesen Worten wandte sie sich an Jack. „Komm mit“, lockte sie ihn.

„Ist schon gut, geh nur mit, ich laufe nicht fort“, beruhigte Jo seinen Freund, und daraufhin trottete Jack gehorsam hinter der älteren Dame her. Der Pfarrer ermunterte Jo herzlich zuzugreifen, und die Mahlzeit war köstlich. Auch die Unterhaltung mit seinem Gegenüber genoss Joe. Er hatte das Gefühl, dass ihn jemand einfach so akzeptierte wie er war, dass tat unendlich gut!

„Kommen Sie jederzeit wieder, meine Tür steht Ihnen immer offen“, hatte der Pfarrer beim Abschied gesagt, und Jo wusste, das war auch so gemeint.

 

Seitdem war er tatsächlich ab und zu darauf zurückgekommen und hatte sogar einmal mit Jack im Pfarrhaus übernachtet. Bevor Jack zu ihm gestoßen war, hatte Joe gelegentlich die Bahnhofsmission zum Schlafen aufgesucht. Vor allem dann, wenn es draußen bitterkalt war, und er wieder einmal das dringende Bedürfnis nach einer Dusche verspürte. Die Betten dort waren heiß begehrt, und so war es schwierig dort unterzukommen, und außerdem waren Tiere in dieser Einrichtung nicht sonderlich willkommen. Bei Jo´s letztem Besuch im Pfarrhaus hatte ihm sein Gönner berichtet, dass er ein Projekt plante, das Leuten wie ihm helfen sollte, im bürgerlichen Leben wieder Fuß zu fassen. Dafür brauchte er allerdings die finanzielle Unterstützung einiger wohlhabender Sponsoren seiner Gemeinde. Zunächst wollte er einen regelmäßigen Mittagstisch organisieren. Später sollte ein leeres, großes Fabrikgebäude in eine Obdachlosenunterkunft umgebaut werden. Jo hörte sich alles geduldig an, aber er hatte Zweifel, ob der Enthusiasmus seines neuen Freundes genügen würde, andere Leute zur Mithilfe bei diesen ehrgeizigen Plänen zu bewegen. Er wusste, wenn es darum ging, die gefüllten Brieftaschen der Menschen zu öffnen, dann wurden die meisten Leute plötzlich sehr zugeknöpft. -

 

Aber zu seinem Erstaunen wurde die Obdachlosentafel tatsächlich in relativ kurzer Zeit eingerichtet. Es gab außerdem eine Initiative, die sich „die Müll-Surfer“ nannte, und deren Mitglieder dafür gesorgt hatten, das an verschiedenen Stellen in der Stadt Kühlschränke aufgestellt wurden, aus denen man sich entweder selbst bedienen oder etwas hineinlegen konnte. Erfreulicherweise gab es nun immer mehr Menschen, die dagegen ankämpfen wollten, dass in den Supermärkten so viele Lebensmittel, unmittelbar nachdem das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war, entsorgt wurden. Vieles darunter war durchaus noch eine ganze Weile genießbar. Da fanden sich oft die schmackhaftesten Dinge, und meistens fiel auch für Jack etwas ab, wenn Jo für sich und seinen Begleiter die Müllcontainer durchsuchte. Die Leute, die sich den „Müll-Surfern“ angeschlossen hatten, taten im Grunde nichts anderes als Jo, wenn er auf diese Weise versuchte, sich und Jack über Wasser zu halten. Bei einer seiner Exkursionen dieser Art fand Jo neben einem Mülleimer einen Stapel Flyer, auf denen von einem ortsansässigen Verlagshaus mehrere Aushilfskräfte für Sortier- und Lagerarbeiten auf Minijobbasis gesucht wurden. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals, und Joe erwog in Gedanken die Möglichkeit sich dort zu bewerben, aber wohin solange mit Jack? Jo wusste, sein treuer Freund war absolut pflegeleicht, aber ob er ihn stundenweise mit in die Firma nehmen konnte und ob dieser Job überhaupt für ihn infrage kam, das erschien ihm fraglich. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dachte er. Plötzlich fühlte er sich stark und sicher. Vielleicht konnte der Pfarrer sogar ein gutes Wort für ihn einlegen, damit er die Stelle erhielt. Am späten Nachmittag machte er sich auf den Weg ins Pfarrhaus. Wie immer wurde er dort sehr herzlich aufgenommen.

„Eine gute Idee, wir sollten gleich anfragen, ob die noch Leute suchen“, fand der Pfarrer und griff spontan zu seinem Smartphone, um das Personalbüro des Verlages anzurufen und sich danach zu erkundigen.

„Und Jack?“, wandte Jo zaghaft ein.

„Ach, für den findet sich schon eine Lösung, wenn es gar nicht anders geht, dann bleibt er bei uns, solange Du arbeitest“, schlug er Jo vor.

Er mochte Jo, deshalb hatte er ihm schon vor längerer Zeit das Du angeboten. Bei dem Anruf in dem Verlagshaus stellte sich heraus, dass man dort durchaus noch an Verstärkung interessiert war. Am besten sollte Jo gleich am nächsten Morgen persönlich dort vorstellig werden.

„Ich komme mit. Vor Ort sehen wir dann, ob Jack mitkommen kann oder nicht. Ihr beide bleibt am besten heute Nacht noch einmal hier“, schlug der Pfarrer vor, und dieses Mal nahm Jo seine Gastfreundschaft ohne zu zögern an.

 

So machten sie sich am nächsten Vormittag zu dritt auf den Weg. Ihr Einsatz war erfolgreich – Jo bekam die Stelle. Besonders erfreulich war, dass sogar Jack mitkommen durfte, probeweise zunächst. Falls keiner der anderen Mitarbeiter Einwände dagegen erheben würde, dürfe er auch dauerhaft „mitarbeiten“ sagte der Personalchef scherzhaft, da er sich schnell davon überzeugt hatte, wie ruhig, gehorsam und gut erzogen der Hund war.

 

„Siehst Du, es lohnt sich immer zu kämpfen, statt aufzugeben, egal wie düster es aussehen mag“, versicherte ihm der Pfarrer. Jo nickte. Sein erster, wichtigster Schritt in ein neues Leben war getan; und er war sicher, dieses Mal würden er und Jack es schaffen, den Absprung zu finden!