Das schwarze Schaf
Meine Freundin Marlies und ich kannten uns schon eine ganze Weile aus Briefen, bevor wir uns zum ersten Mal persönlich begegneten. Sie und ihr Mann Günter sind sehr gastfreundlich und hatten mich und meinen Mann schon öfter eingeladen sie zu besuchen, aber, um ehrlich zu sein, wir scheuten den weiten Weg. In diesem Jahr gab es allerdings einen guten Grund dafür, dass wir uns doch auf die Reise in den Süden machen wollten. Marlies hatte mir schon einige Male mit großer Begeisterung von ihrer Leidenschaft für Weihnachtskrippen erzählt. Sie und ihr Mann sind katholisch, da ist die Krippe mit der Heiligen Familie zum Weihnachtsfest mindestens genauso wichtig wie für die meisten anderen Christen der geschmückte Tannenbaum. Marlies hatte mir schon einige Fotos ihrer diversen Krippen gesandt und nun brannte sie darauf, sie uns endlich einmal zeigen zu können. Also hatten wir uns dazu entschlossen, ihrer Einladung in diesem Jahr Folge zu leisten.
Marlies sammelt schon seit etlichen Jahren Krippen, und mit diesem Hobby hat sie im Lauf der Zeit ihren Mann Günter ebenfalls angesteckt. Inzwischen verwandeln sich die Räume in ihrem Haus in der Vorweihnachtzeit immer in eine regelrechte Krippenausstellung. Dazu werden am 4. Advent sogar die Nachbarn eingeladen, um die ständig wachsenden und sich stetig verändernden Kunstwerke zu besichtigen. Während des ganzen Jahres überlegt Marlies wie und in welchen Räumen sie ihre Lieblingsstücke am besten zur Geltung bringen kann. Günter schnitzt und schreinert ebenfalls viele Stunden in seinem Hobbykeller, um die Ideen seiner kreativen Frau umzusetzen. „So sind schon viele wunderschöne Fotos für Weihnachtskarten entstanden“, hatte Marlies mir geschrieben. Einige der älteren Fotos hatte ich gesehen und war neugierig geworden. Genau wie Marlies bin ich ein absoluter Weihnachtsmensch und habe viel Spaß daran, in der Adventszeit das Haus festlich zu dekorieren. Daher freute ich mich besonders auf diesen Besuch. Brieflich verstanden wir uns ausgezeichnet, aber, wenn man sich dann plötzlich Auge in Auge gegenübersteht, dann ist das doch eine ganz andere Sache. Wie sich herausstellte, war meine Unsicherheit vor dieser ersten Begegnung gänzlich unbegründet. Wir wurden von Marlies und Günter so herzlich empfangen, als wären wir uralte Freunde. Marlies bestand darauf, dass wir uns erst einmal gemeinsam bei Kaffee und Plätzchen stärken sollten, bevor wir uns alles anschauen durften. Das war vor allem für meinen Mann nach der langen Fahrt eine sehr willkommene Geste. So nahmen wir an der geschmackvoll gedeckten und weihnachtlich dekorierten Tafel Platz. Die Plätzchen hatte Marlies selbst gebacken, wie sie versicherte - und sie schmeckten ausgezeichnet. Ich sah auf den ersten Blick, dass es mindestens sechs verschiedene Sorten waren, die sie auf einem großen Teller arrangiert hatte. Dazu gab es Stollen, Printen und Marzipankartoffeln. Herz, was begehrst Du mehr? Vor jedem Gedeck stand ein kleiner Engel, den wir sogar mit nach Hause nehmen durften.
„Die Engel habe ich aus Salzteig gemacht“, erzählte Marlies fröhlich.
Mir gefielen die Engel sehr und so bedankte ich mich aufrichtig bei ihr für die beiden niedlichen Figuren. Dafür würde ich zuhause ganz bestimmt einen schönen Platz finden. Nachdem Marlies die Kaffeetafel aufgehoben hatte, führten sie und Günter uns durch ihr Haus. Ich muss gestehen, dass es mir beim Anblick der vielen unglaublich schönen Dinge, die ich in dem großen Haus zu sehen bekam, fast die Sprache verschlug. So gut wie keine Ecke blieb undekoriert. Es musste Tage gedauert haben, alles aus Kisten und Kästen aus dem Keller oder vom Dachboden zu holen und aufzustellen. Voller Stolz zeigte und erklärte uns Marlies ihre Krippensammlung. Günter hatte die meisten Figuren selbst geschnitzt und auch die Unterkünfte für die Heilige Familie eigenhändig hergestellt. Da gab es große und kleinere Krippen – und alle waren gänzlich verschieden. Wir konnten nur staunen, denn man sah sehr deutlich, wie viel Zeit, Mühe und vor allem Liebe zum Detail in diesen Kunstwerken steckte. So waren viele Dächer der Ställe mit echtem Material bemoost, das jedes Jahr erneuert werden musste, wie Günter berichtete. Selbstverständlich waren zu jeder Krippe Hirten unterwegs, aber auch anderes Volk hatte sich auf den Weg dorthin gemacht. Reich gekleidete Kaufleute oder Bauern mit ihren Frauen und Kindern zum Beispiel. Viele trugen Obst oder andere Gaben bei sich und alle Krippen waren in unterschiedliche Landschaften eingebettet.
„Die heiligen drei Könige kommen aber erst im Januar dazu“, wurden wir von unseren Gastgebern aufgeklärt.
Mir fiel auf, dass bei den Tieren, außer Ochs und Esel im Stall, auch andere Vierbeiner die Menschen begleiteten. Hier und dort ritt ein Besucher auf einem Pferd oder einem Kamel und ein Mann hatte einen Hund dabei, der unterwegs sein Beinchen hob, um sich an einem Baum zu erleichtern. Auch fand sich in einer Krippe eine Katze, die oben im Dachgebälk saß, während ein vorwitziges kleines Mäuschen neugierig über den Rand der Krippe lugte, um sich das göttliche Kind anzusehen, dass vergnügt auf seinem Strohbettchen lag und mit den Füßen strampelte. Über einigen Krippen schwebten Engel mit wunderschön gezeichneten Gesichtern in festlichen Gewändern, die Günter geschnitzt und für die Marlies ein Kleid aus Stoff genäht hatte. Eines fiel mir auf, denn das war ein Detail, was sich bei jeder Krippe fand, so unterschiedlich sie sonst waren, und ich fragte danach.
„Hat es einen bestimmten Grund, dass bei den vielen Schafen immer mindestens ein schwarzes Tier dabei ist?“, wollte ich wissen.
„Ja, das ist Absicht. Unter uns Menschen gelten die sogenannten schwarzen Schafe ja eher als Außenseiter und sind oft sogar wenig beliebt. Tiere machen diese Unterschiede nicht. In dieser Hinsicht sind sie viel toleranter, deshalb habe ich in jeder Herde mindestens ein schwarzes Schaf mitlaufen lassen“, erklärte Marlies.
Die Idee gefiel mir sehr. Wie recht sie doch hatte, meine liebenswerte, kluge Freundin. Als sie sich einen Augenblick später entschuldigte, weil das Telefon läutete, grinste Günter uns an und sagte: „Marlies weiß immer ganz genau wo sie welche Figuren platziert hat. Auch das Umfeld der Krippen und ihren Standort ändert sie jedes Jahr ein wenig. Passt mal auf, sie wird sicher sofort bemerken, dass ich eine Kleinigkeit geändert habe.“
Er nahm aus der nächsten Krippe eines der drei schwarzen Schafe fort und stellte einen Baum an eine andere Stelle. Schon kam Marlies wieder, und wir taten natürlich so, als wären wir nach wie vor in die Betrachtung der großen Krippe versunken. Sie trat zu uns, warf ebenfalls einen Blick darauf und schoss sofort auf Günter zu.
„Wo ist das schwarze Schäfchen? Du wolltest mich sicher wieder ein bisschen aufziehen oder? Rück es sofort raus, es spielt eine wichtige Rolle. Es soll das Jesuskind wärmen, aber erst am Heiligen Abend! Und den Baum stellst Du bitte auch wieder an seinen ursprünglichen Platz.“
Lachend kam Günter der Aufforderung seiner besseren Hälfte unverzüglich nach und reichte ihr das kleine schwarze Schaf. Die Figur, die er zuvor entfernt hatte, stand nicht aufrecht, sondern hatte neben zwei stehenden weißen Schafen gelegen, und Marlies demonstrierte uns, wie es aussah, wenn es stattdessen zu Füßen von Maria´s Baby lag. Ausgerechnet ein schwarzes Schäfchen sollte das Jesuskind wärmen – diese Vorstellung gefiel mir ganz besonders gut!
„Na, was habe ich Euch gesagt!“, meinte Günter.
Damit war auch der letzte Rest von Verlegenheit gebrochen und wir hatten an diesem Wochenende noch viel Spaß miteinander.
„Sicher werden Eure Nachbarn auch in diesem Jahr von Eurer Krippenausstellung wieder begeistert sein“, sagte ich Marlies zum Abschied.
Sie lächelte und meinte: „Das hoffe ich, aber ich muss schwer aufpassen, dass Günter mir nicht wieder alles durcheinanderbringt, das tut er nur zu gern!“
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