Hilde

 

Ich habe schon viele Sommer gesehen, aber nun muss ich leider sagen, dass ich in der letzten Zeit immer mehr vergesse. So ist es wohl, wenn man alt wird. Die müden Knochen wollen nicht mehr so, schmerzen auch öfter, der Appetit lässt nach, die Sehkraft auch und sogar das Putzen und Striegeln des Pelzes fällt mir gelegentlich etwas schwer. Aber ich war immer eine gepflegte Katze, und das möchte ich auch bleiben. Am besten kann ich mich noch an die Zeit erinnern, als ich ein kleines Kätzchen war. Drei Geschwister hatte ich, eines war schwarz und grau gestromt, so wie ich, ein anderes war pechschwarz mit weißen Ohren und weißen Pfötchen und das dritte war mausgrau. Unsere Mama war sehr stolz auf uns. Sie hat uns geliebt und uns alles beigebracht, was eine selbstständige Katze lernen muss. Nach und nach sind wir zu unseren Familien gekommen, und ich weiß nicht, wie es meinen Geschwistern ergangen ist – leider. Aber ich habe es gut getroffen, das muss ich sagen. Außer Mama und Papa waren schon zwei Kinder da, als ich zu ihnen kam. Anna und Niels haben mich sehr verwöhnt, und wenn sie aus der Schule kamen und gegessen hatten, immer viel mit mir gespielt. Ab und zu haben sie sogar Schimpfe bekommen, wenn ihnen das wichtiger war als ihre Hausaufgaben. Menschenkinder haben es viel schwerer als Katzen, sie brauchen so viel länger, um aufs Leben vorbereitet zu werden. Inzwischen sind die beiden erwachsen und kommen nur noch selten zurück in ihr Elternhaus, und ich glaube, ihre Eltern vermissen sie. Vor allem ihre Mutter musste sich erst daran gewöhnen, dass sie jetzt nur noch für ihren Mann und mich sorgen muss. Aber sie kümmert sich wirklich gut um uns, und ich glaube, ich bin für sie fast so etwas wie ein drittes Kind. Aber inzwischen bin ich eher eine Katzenoma, denn auch ich habe mehrfach Kinder bekommen und sie in die Welt hinausziehen lassen müssen. Nun bin ich eine alte Katze. Ich liege hier unter einem blühenden, süß duftenden Fliederbusch und denke an die guten alten Zeiten zurück. Es könnte mir gut gehen, wenn ich zuhause wäre. Bin ich aber leider nicht, ich weiß gar nicht wo ich bin. Hab´ mich irgendwie verlaufen und finde den Weg zurück nicht mehr. Ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Ich hatte Lust, mal wieder ein wenig weiter zu laufen als gewöhnlich, aber das hätte ich nicht tun sollen. Hunger habe ich auch, aber meine Fressnäpfe sind leider nicht in Sicht. Ich fühle mich schwach und elend. Ich will nach Hause, kommt denn niemand und holt mich hier weg?

 

Gestern habe ich mächtig Glück gehabt, mir ist eine fette Maus über den Weg gelaufen, und es ist mir tatsächlich gelungen sie zu fangen. Aber mein Magen knurrt schon wieder und Durst habe ich auch. Seitdem ich von zuhause fortgelaufen bin, ist die Sonne schon einige Male auf und wieder untergegangen. Was mache ich bloß?

 

Ein mitleidiger Mensch hat mich heute mit zu sich nach Hause genommen und mir netterweise dort etwas Futter gegeben. Das hat er sich von seiner Nachbarin, die eine Katze hat, für mich erbeten. Aber behalten kann er mich nicht, sagt er. Er wird mich in einTierheim bringen, da kommen alle verloren gegangenen Tiere hin, und wenn sie Glück haben, dann finden ihre Menschen sie da wieder. Wie das gehen soll? Fragt mich bloß nicht, das weiß ich nicht, aber jetzt sitze ich in einer Transportbox, die er sich   auch von der netten Nachbarin geliehen hat, und wir sind auf dem Weg zum  Tierheim. Er sagt, ich muss keine Angst haben, da wird gut für mich gesorgt. Schöner Trost – ich möchte viel lieber nach Hause! Jetzt hält der Wagen an, meine Box wird vom Rücksitz genommen, und dann sehe ich ein fremdes Gesicht vor mir. Es ist eine Frau, die mich aus der Box hebt, mich gründlich betastet, mir ins Mäulchen schaut und mich schließlich wieder in die Box steckt. Dann bringt sie mich in ein Gehege mit vielen anderen Katzen. Dort öffnet sie die Tür wieder und lässt mich raus. Vorsichtig verlasse ich die Box, und dann sehe ich noch einmal den Mann, der mich hierher gebracht hat. Er beugt sich zu mir hinunter, streichelt mich zum Abschied und geht dann schnell weg. Soll ich ab jetzt den Rest meines Leben hier verbringen? Erst mal drücke ich mich in die hinterste Ecke und warte ab was geschieht. Die anderen Katzen scheinen sich hier wohl zu fühlen. Einige schlafen oder fressen, andere springen umher und eine kommt auf mich zu und fragt woher ich komme.

„Weiß ich nicht, aber ich will nach Hause“, gebe ich unfreundlich zur Antwort.

„Ein Zuhause, das wollen wir alle“, maunzt sie zurück, aber dann verzieht sie sich wieder und lässt mich in Ruhe. Ist besser so. Ich rolle mich erst mal zusammen und schlafe eine Runde. Danach kann ich vielleicht über meine Lage nachdenken.

 

Nachdem ich aufgewacht bin, fühle ich mich etwas besser. Wenig später kommt ein junges Mädchen in unser Gehege und bringt uns etwas zu fressen. Auch mir stellt sie ein paar Körnchen hin, die ich lustlos knabbere. Aber Durst habe ich, und das frische Wasser schmeckt gut. Ich weiß nicht wie lange ich schon im Tierheim bin, aber eines Tages, ich traue meinen Augen kaum, taucht tatsächlich meine Katzenmama auf.

„Hilde, da bist Du ja!“, ruft sie.

Ich kann es kaum glauben, aber diese Stimme kenne ich nur zu gut, das ist sie - ganz bestimmt. Einen Moment später steht sie tatsächlich vor mir, nimmt mich hoch und sagt: „Du hast Dich verlaufen, stimmt´s? Aber jetzt hole ich Dich wieder nach Hause. Und in Zukunft passen wir besser auf Dich auf – versprochen.

Ich bin sehr froh, als sie mich auf den Arm nimmt, und um ihr das zu zeigen, schmiege mich ganz eng an ihre Brust.

„Wie alt ist Hilde?“, höre ich die Frau vom Tierheim fragen. „Wir haben sie auf etwa fünfzehn Jahre geschätzt.“

„Ich denke eher, sie müsste schon fast achtzehn sein“, antwortet meine Katzenmama. „Sie ist unser Ömchen und leider ab und zu schon etwas orientierungslos, sie würde nie absichtlich fortlaufen.“

Stimmt, freiwillig wäre ich nicht abgehauen, so wie früher mal, wenn ein fescher Kater nach mir rief. Vor Glück schnurre ich ganz laut und gelobe feierlich, dass ich von jetzt an im Garten bleiben werde. In meinem eigenen Garten, denn den kenne ich gut, und der Rest der Welt interessiert mich eigentlich gar nicht mehr.